Museum der vergessenen Geheimnisse
Oksana Sabuschkos zweiter Roman ist eine schonungslose, mutige und
manchmal schockierende Abrechnung mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen der Ukraine. In einem komplexen Panorama erzählt sie die
Geschichte dreier Frauen und damit auch die schwierige und verworrene
Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert.
Daryna ist
Fernsehproduzentin in Kiew. Eines Tages entdeckt sie ein Foto der
Partisanin Helzja, Mitglied der Ukrainischen Aufstandsarmee in den 40er
Jahren, und beschließt, ihre Geschichte in einer Dokumentation
aufzuarbeiten, umso mehr, als sie sich im Zuge ihrer Recherchen in
Helzjas Enkel verliebt. Fast zur selben Zeit kommt Darynas beste
Freundin bei einem Unfall ums Leben, die Malerin Wlada, deren
international hoch gehandelte Gemäldeserie "Geheimnisse" bei diesem
Unfall verschwindet.
Geheimnisse - vor den Bolschewiken vergrabene
Ikonen, geheimniskrämerische Mädchenspiele, von der offiziellen
Geschichtsschreibung Verschwiegenes, das Unausgesprochene zwischen
Männern und Frauen - dieses Motiv durchzieht den überbordend erzählten
Roman, der eine erstrangige Mentalitätsgeschichte eines paradigmatischen
osteuropäischen Landes darstellt. Oksana Sabuschkos neues Buch ist noch
offensiver als ihr Erfolgsroman Feldstudien über ukrainischen Sex, sie
verschont weder die Helden der ukrainischen Geschichte noch deren Opfer,
weder die Jahrzehnte unter der russischen Sowjetherrschaft noch die
ersten beiden Jahrzehnte der Unabhängigkeit, und - da sich der
gesellschaftliche Machtkampf gerade auch im Sexuellen spiegelt - weder
Männer noch Frauen. Ihre Fragen gehen uns alle an: Ist es vernünftig,
die "stillgelegten Geheimnisse" der Geschichte auszugraben - oder sollte
man sie aus Sicherheitsgründen gar nicht erst berühren? Wie gehen wir
mit den Traumata der Vergangenheit um, von denen wir gar nicht wissen,
dass wir sie geerbt haben?
Rezensionszitat:
"Das Buch fesselt
den Leser von der ersten Seite an, was für alle Bücher von Sabuschko
zutrifft - ihr fieberhafter, aufgewühlter und äußerst verwickelter
Diskurs strahlt eine solche Energie aus, dass der Leser sich dem Willen
der Autorin fügen muss, sich am Schopf packen und in den Strudel
hineinziehen lässt.
Dieses Buch, seit seinem Erscheinen die Nr. 1
aller ukrainischen Bestsellerlisten, ist von so großer Bedeutung, dass
Oksana Sabuschko von den Kritikern bereits als zweiter Dostojewski
bezeichnet wird ... Hier wird die ganze bittere und harte Wahrheit über
unsere heutige Realität erzählt." UNIAN (Ukrainische staatliche
Nachrichtenagentur)
Textauszug:
Ich neige inzwischen zur
Ansicht, dass das menschliche Leben nicht nur eine episch aufbereitete
Story mit Personal (Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Kollegen, wer
noch ...?) ist, die man als mehr oder weniger komplette Abbildung an die
Nachfahren weiterreichen kann, so sieht es nur ein fremder Blick, eine
Perspektive auf das Leben wie durch das umgedrehte Ende eines Fernrohrs,
durch die Linsen verschiedener kurzgefasster Lebensläufe,
autobiografischer Anekdoten und Küchengeschichten, der Privatmythen,
also das fortwährende Zurechtstutzen der Form für das menschliche Auge;
betrachtet man das Leben dagegen aus seiner Mitte heraus, erscheint es
wie ein gewaltiger, unförmiger Koffer, vollgestopft mit - für andere
überflüssigem - Kram, und diesen Koffer nimmt der Mensch
unwiederbringlich mit sich, wenn er diese Welt verlässt. Unterwegs fällt
freilich für die Lebenden zum Andenken das eine oder andere
Überbleibsel aus dem nicht ganz geschlossenen Koffer (der Wunsch nach
einem letzten Birnenkompott, ein schwungvoller Ballettschritt, ein
Schwung von unten nach oben ähnlich wie beim Hochsprung) und bleibt, bis
es vermodert, in den Köpfen der Finder ... jedes Mal wenn ich auf so
ein verirrtes Überbleibsel stoße, verspüre ich kaum merklich eine dumpfe
Schuld wegen meiner Ratlosigkeit, als könne sich in dem zufälligen
Überbleibsel ein Schlüssel verbergen, ein verlorener Code für einen
tieferen, verborgenen Sinn des fremden Lebens, und dieser Schlüssel ist
mir in die Hände gegeben und ich weiß nicht, in welches Schloss er
gehört, und noch schlimmer, ob es dieses Schloss überhaupt gibt ...
EAN: | 9783854207726 |
Seiten: | 759 Seiten Seiten |
Veröffentlicht: | September 2010 |
Verlag/Hersteller: | Literaturverlag Droschl |
Autor*in: | Oksana Sabuschko |
Übersetzer*in: | Übersetzt von Alexander Kratochvil |